MUTTERTIER – MUTTERMENSCH
Deutschland 1998. Beta SP, Farbe, 62 Minuten. Produktion: Helke Sander Filmproduktion im Auftrag des ZDF und ARTE. Regie und Buch: Helke Sander. Regieassistenz: Bettina Schöller. Kamera: Philipp Pfeiffer. Ton: Stefan Schmahl, Kurt Eggmann, Mattias Postel. Schnitt: Maria Hemmleb, Helke Sander. Produktionsleitung: Ulrike Zimmermann. Musik: Wolfgang Hamm
Mitwirkende: Elisabeth Badinter, Marie Marcks, Julia Immenkamp, Sophie von Behr, Frauen aus dem Wohnprojekt Olaga Rabiata, Claudia Richarz, Petra Streit, Helma Sanders-Brahms, Annegret Stopczyk, Svenja Rossa und Helke Sander als Lucy
Erstausstrahlung: 9.5.1999 (arte)
Preis: Minsker Frauenfilmfestival 1999, Dokumentarfilmpreis
Zum Film
Einer der meistzitierten und heute leider dümmsten Sprüche überhaupt ist der Simone de Beauvoir zugeschriebene Satz: Man wird nicht als Frau geboren, man wird zur Frau gemacht. Damals bedeutete als Frau geboren zu werden gesellschaftliches Schicksal: ein Leben in der Rechtlosigkeit, Unwissenheit und Überarbeitung. Der Spruch verdeutlicht, dass jede Frau identisch ist mit der ihr aufgezwungenen unterdrückten Rolle. Die Biologie, sagt der Spruch, nimmt der Frau jede Definitionsmacht, also kann die weibliche Biologie mit dem Defizitären schlechthin gleichgesetzt werden. Viele Frauen, die sich gegen ihre defizitäre Rolle zur Wehr setzen, übernehmen die Gleichsetzung des Defizitären mit der weiblichen Biologie und lehnen sie daher ab.
Die Frauen in diesem Film haben alle gemeinsam, dass sie nicht ihre Biologie infrage stellen, dass sie gerne Frauen sind, gerne Mütter sind und selber in der Lage sind, die Gesellschaft und ihre Position darin zu definieren. Sie sehen ihre Mutterrolle nicht fremdbestimmt und lassen sich gleichzeitig nicht auf die patrialisierte Form von Mütterlichkeit reduzieren. Sie wurden als Frauen geboren und definieren, was das für sie heißt. Die Kinderlosen sehen realistisch die Widerstände, die sie überwinden müssten, um allen zu zeigen, dass die Mutterrolle nicht identisch ist mit der Interpretation, die die Männergesellschaft ihr gegeben hat. Die Mütter in dem Film nehmen ihre Fähigkeit, Kinder zu gebären, an und interpretieren sie nicht defizitär, wie das Teile der Frauenbewegung lange Jahre getan haben. Mit dem Muttertier Lucy könnten die Muttermenschen sogar sagen: Die ersten Menschen waren Mütter, was sonst!
Helke Sander, 1998
Aus Kritiken
Der Dokumentarfilm von Helke Sander behauptet: Man wird nicht als Mutter geboren, man wird es. Eine These, die mit Humor aufgestellt wird. Verschmitzt behauptet die Autorin als Lucy, unsere afrikanische Vorfahrin, dass die ersten Menschen Mütter waren. In der primitiven Horde war die Mutter mit Kind gehandikapt, wenn sie in die Bäume stieg und Nahrung suchte. Deshalb baute sie eine Unterkunft und rief hoch aus dem Bäumen ihrem Kind etwas zu, um den Kontakt herzustellen: So erfand sie die Sprache. Diese ungeheure zivilisatorische Arbeit wurde nur geleistet, um die Kleinen zu beschützen. Heute fragt Lucy die Mutter: Was habt ihr seitdem gemacht?
Die Frauen, die sich dieser Frage stellen, Deutsche wie die Regisseurin Helma Sanders-Brahms oder die Philosophin Annegret Stopczyk, auf französischer Seite Elisabeth Badinter, Autorin des Buches „L’Amour en plus”, das die Mutterliebe als fromme Lüge entlarvt.
Armelle Cressard, in: Le Monde, Paris, 3. Mai 1999