Zur Leitkultur von Friedrich Merz

2. Oktober 2000

Was darf gesagt, was nicht gesagt werden?

Seit einigen Tagen sind die Zeitungen voll mit der Merz´schen Äußerung über die deutsche Leitkultur. Harmlose Witzbolde machen daraus Leidkultur, „Betroffene“ fürchten, dass schon wieder am deutschen Wesen die Welt genesen soll, es wird gefragt, ob nun alle zum Sauerkrautessen verpflichtet sein sollen und Henryk Broder soll in seiner bekannten Schärfe auch etwas dazu sagen und so identifiziert er dann also die deutsche Leitkultur mit der Fernseh-Hitparade und alle lachen gequält ob dieses Witzes und Sloterdijk lässt verlauten, dass der Begriff „trivial“ sei. Insgesamt lässt sich sagen, keine Zeitung bleibt ohne Kommentar, fast alle sind sich einig und unisono kritisch und entlarven mit Genuss den bitterbösen und latent rechten Kern von Herrn Merz. Ein von allen ertappter Schurke, der so genannt werden darf.

Ungefähr zeitgleich mit der umstrittenen Äußerung von Herrn Merz, am 23.10.00, gab es in ARTE einen Themenabend über Lars von Trier und ein Interview mit dem Filmregisseur, der in diesem Jahr für „Dancer in the Dark“ die goldene Palme in Cannes bekommen hat. Trier sprach bewundernd von einem anderen Regisseur, von Dreyer, vor dessen Grab er knieend und sich bekreuzigend gefilmt wurde. Trier zeigte die bekannten Standfotos aus dem Dreyerschen Film „Johanna von Orleans,“ in dem die Schauspielerin Maria Falcconetti diesen entrückten Ausdruck habe, so Trier, weil Dreyer einen Neger bestellt habe, von dem er sie kurz vor der Aufnahme habe von hinten ficken lassen, anal, und das hätte er – Lars von Trier – vielleicht mit Björk auch machen sollen… (im Sinn von: dann wären die Aufnahmen besser gelaufen und er hätte sich nicht dauernd mit Björk rumzanken müssen). Die Interviewerin kommentierte das nicht, sowas wird frisch weggesteckt und eine moderne Frau kann dadurch, dass sie zu so einem Satz munter lacht, zeigen, dass sie nicht verbiestert ist. Auch später gab es keinerlei Kommentar zu diesem Satz. Mir ist jedenfalls keiner bekannt, wenn ich davon absehe, dass mich eine Freundin anrief, die das auch gehört hatte und eine andere, der ich davon erzählte, sagte, Verleumdung sei strafbar und auf so was hätte der Sender reagieren müssen.

Mir konnten bisher und werden vermutlich auch in Zukunft keine großen Sympathien für die CDU nachgesagt werden, aber ich habe nicht eine Sekunde bei diesem leidigen Begriff Leitkultur an großdeutsche Allmachtsvorstellungen gedacht, die offenbar Herrn Merz allüberall unterstellt werden, sondern ich habe darüber nachgedacht, ob es möglicherweise zu dem, was mir zu dem Begriff spontan einfiel und was in sich sehr heterogen war, einen besseren Oberbegriff gebe. Offenbar wollte ja niemand von Herrn Merz wissen, was er sich zu diesem Wort in den Einzelheiten gedacht hatte und den Kritikern wiederum scheint es selbstverständlich, dass sich die LeserInnen nur das Schlimmste denken. Ich habe es also so verstanden und ich hoffe, er hat es so gemeint, dass in dieser Kurzfassung damit ausgedrückt wird, von nach Deutschland ziehenden Ausländern zu verlangen, das Grundgesetz anzuerkennen, besonders und ausdrücklich auch Artikel drei, den Gleichberechtigungsparagrafen, die deutsche Sprache zu erlernen, rechts statt links zu fahren, keine Blutrache zu üben, keine Beschneidungen bei Mädchen vorzunehmen, die Trennung von Staat und Kirche zu respektieren…. Man sollte Herrn Merz Gelegenheit geben, seine eigenen Definitionen dagegenzusetzen, dann können wir streiten, ob wir in jedem Fall darunter das gleiche verstehen. Statt rumzumeckern sollte nach einem besseren Wort für diese unterschiedlichen Sachverhalte gesucht werden.
Ich schlage ein Preisausschreiben vor.
Es ist noch ein weiterer Aspekt, um dessentwillen ich mich hier in diese Diskussion einschalte und das Recht auf Sprach-Irrtümer verteidige. Normalerweise schalte ich inzwischen ab, wenn Politiker reden. Ich ertrage die Aneinanderreihung sprachlicher Versatzstücke nicht mehr, derer sich mit wenigen Ausnahmen fast alle PolitikerInnen bedienen. Diese bürokratisierte Sprache empfinde ich als wirklich kriminell. Wenn nun jemand versucht, selber zu denken, selber Worte zu finden, um in einer Kurzformel einen Gedanken auszudrücken, dann begrüße ich das. Ich kann mich streiten, wenn mir der ausgeführte Gedanke nicht passt. Ich möchte mich aber nicht daran beteiligen, in die Front derer gezählt zu werden, denen unterstellt wird, dass der erwähnte Begriff nur deutschnational interpretierbar ist und den Benutzer dieses Begriffs darum für mega-out und mega politisch unkorrekt zu erklären. Der Effekt wird sein, dass Herr Merz sich hüten wird, noch einmal ein unübliches Wort zu benutzen. Er wird sich diesem veröffentlichten Stuss nicht mehr aussetzen wollen. Statt dessen wird er die eigenen individuellen Sprachreste schleunigst ausmerzen und bald so reden, wie die Computer-Hotline-Stimmen. Das ist schade, weil dann eben nicht öffentlich darüber geredet wird, ob zur Leitkultur die christlichen Kirchen gehören oder nicht und wenn, in welcher Form, und ob es akzeptabel und mit dem Grundgesetz vereinbar ist, dass Moslemfrauen sich unbegleitet nur siebzig Kilometer von ihrem Wohnort entfernen dürfen.
Den gegenwärtigen Stand an „Verfassungskultur“ zu erreichen, war schwer genug. Ich möchte gerne eine Leitkultur, ich möchte, dass dies auch explizit ausgedrückt wird, weil ich in diesem Land keine beschnittenen Mädchen haben möchte, keine Ärzte, die das durchführen, und keine Anerkennung der 70 km – Grenze für eine Moslemin. Wenn die veröffentlichte Öffentlichkeit es fertig brächte, diese Begriffe wirklich diskutieren zu lassen, dann würde sie auch bald der Tatsache gewahr, dass Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit immer einher gehen mit Frauenfeindlichkeit und zusammen diskutiert werden müssen. Insofern schützt die Frauen die deutsche Leitkultur. Solange es tabu ist, darüber zu reden, wird es tabu bleiben, dass viele Asylbewerber aus Ländern extremster Frauenfeindlichkeit kommen, die hier nicht etwa naturhaft abgelegt wird und Konflikte schafft, deren Benennung kein Zeichen für Fremdenfeindlichkeit ist.

Und noch eine persönliche Bemerkung an manche Kritiker der Leitkultur, besonders SPD- und Grünen-Politiker, die in anderen Zusammenhängen von der Toscana schwärmen, ja, fast dort zu Hause sind, weil dort alles „so ursprünglich ist und die Bauern so nett und erkennbar italienisch und das Olivenöl aus der ersten Pressung,“ weil da eben nur sie und die Eingeborenen und noch keine Albaner sind und unangefochten die Jungfrau in der Kirche steht. Aber selbst darüber will ich keine Witze machen. Wir sollten einfach ernsthaft darüber sprechen, warum sich so viele heute nach Einfachheit und Identifizierbarkeit sehnen, was bei Dumpfbacken sich in deutschnationalen Tönen äußert und bei Reicheren und Sensibleren und Linkeren in der Verherrlichung des italienischen Landlebens, des Meers oder der Alpen, in der Eindeutigkeit eben.

(Diesen Artikel hatte ich während der Diskussion über die MERZ´sche Leitkultur im Oktober 2000 der taz angeboten. Sie wollten ihn aber nicht haben. Ich finde ihn nach wie vor aktuell.)